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Dr. Ralf F. Hartmann, Kunsthistoriker

Ausstellungseröffnung „timeline“ am 20.09.2018

Mit der Ausstellung „timeline“ nimmt die Galerie Historischer Keller als einer von über 60 Orten in diesem Jahr wieder am Europäischen Monat der Fotografie teil.

Dieses Großprojekt verschafft nicht nur der Fotografie als wichtigem künstlerischem Medium, sondern auch der Galerie Historischer Keller und den beiden Fotografen eine weit über den Bezirk Spandau hinausgehende Aufmerksamkeit und wird in den kommenden Wochen sicher viele Besucherinnen und Besucher an diesen besonderen Ausstellungsort – gewissermaßen in den historischen Bauch der Spandauer Altstadt - locken.

Sabine von Breunig und Ingo Kuzia haben mit der Ausstellung ihrer fotografischen Arbeiten in den historischen Räumen des Kellers nicht nur Bezug zum Kontext genommen, sondern sie haben ebenso einen deutlichen Akzent gesetzt. Sie beginnen auf inhaltlicher, ästhetischer und emotionaler Ebene einen Dialog zwischen verschiedenen Zeitebenen und Epochen.

Die timeline, die sie mit ihren Arbeiten setzen, spannt einen weiten Bogen vom 15. Jahrhundert – aus dem der Kern dieses Architekturkontexts stammt - über das bewegte 20. Jahrhundert und die Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg bis hinein in die unmittelbare Gegenwart, in der die Fotografien in diesen geschichtsträchtigen Räumen eine eigene bildmächtige Bedeutungsebene entfalten.

Beide Künstler, sowohl Sabine von Breunig als auch Ingo Kuzia begeben sich mit ihrer Arbeit auf eine fotografische Spurensuche, die in gewisser Hinsicht einer archäologischen Feldforschung zu Krieg und Militär gleichkommt. Denn Sie konzentrieren sich in dieser Ausstellung auf die fotografische Repräsentation zurückgelassener Architekturen im südöstlichen und nordwestlichen Berliner Umland, die ursprünglich militärisch genutzt wurden:

Sabine von Breunig hat zwei Jahre in Wünsdorf gearbeitet und die von der Sowjetarmee zurück gelassenen Kasernen, Casinos und Bunker mit der Kamera dokumentiert.

Ihr Kollege Ingo Kuzia hat sich ebenso intensiv dem ehemaligen Flugplatzgelände im Erlenbruch bei Schönwalde gewidmet, das ebenfalls bis 1992 von der sowjetischen Armee genutzt wurde.

Beide Fotografen fangen in ihren Arbeiten aber nicht allein die Situation menschenleerer und dem Verfall bzw. dem Wandel  überlassener früherer Standorte der Sowjetarmee ein, sondern sie eröffnen in ihrer subtilen Motivwahl und der jeweils spezifischen Art der künstlerischen Inszenierung eine überzeitliche Perspektive auf diese Orte und ihre Charakteristika.

Überzeitlich insofern, als es ihnen nicht darum geht, einen Status quo zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt zu fixieren, um ihn final dem Archiv der Geschichte zu überlassen, sondern überzeitlich, weil sich eine gesamte Zeitleiste über die Jahrhunderte in die Fotoarbeiten einschreibt.

Diese timeline führt zum einen bis in die Entstehungsjahre der Gebäude zurück – im Fall von Wünsdorf bis in die Kaiserzeit, im Fall des ab 1934 erbauten Fliegerhorst bis in die NS-Zeit.

Andererseits ist die Gegenwart, sind die Unabgeschlossenheit eines kontinuierlichen Verwandlungsprozesses und die permanente Weiterentwicklung der Gebäude und Gelände sowohl in den Arbeiten von Ingo Kuzia als auch in denen von Sabine von Breunig überall präsent.

Arbeitet Sabine von Breunig - die ursprünglich als Journalistin begann, dann zunächst bei dem bekannten Architekturfotografen Heiner Leiska in Hamburg und später bei Arno Fischer, einem der Väter der Autorenfotografie in der DDR - ihr künstlerisches Handwerk erlernte – arbeitet Sabine von Breunig also in ihrer dezidierten Perspektive auf Komposition und Lichtregie vorwiegend dokumentarisch, so wendet ihr Kollege Ingo Kuzia, der ebenfalls als Fotojournalist begann, um später dann auch ausschließlich freiberuflich zu arbeiten, andere künstlerische Verfahrensweisen an, die insbesondere das transitorische Moment seiner gewählten Bildmotive herausstreichen.

Auf den ersten Blick fällt es mitunter schwer, die Arbeiten beider FotografInnen voneinander zu unterscheiden, kommen sie sich doch in Kolorit, Tonalität und einer gewissen emotionalen Grundgestimmtheit zunächst sehr nahe.  

Das liegt natürlich auch an der Auswahl der Bildmotive, die bei beiden Künstlern immer auf den Prozess der formalen Zersetzung, die Auflösung von architektonischen und räumlichen Koordinaten  durch Verfall, pflanzliche wie menschliche Inbesitznahme und Überformung durch die Artikulationen der Nachnutzer fokussieren:

Da beginnen Farbschichten und Tapeten von den Wänden abzuplatzen, da ergreifen Moose und Flechten Besitz von Mauern und Böden und da sind nicht selten die Spuren von Vandalismus und Rohstoffdiebstahl zu erkennen.

Sabine von Breunigs Arbeiten sind in der Regel von einem strengen formalen Aufbau gekennzeichnet. Ihre Blickperspektiven stellen sich zumeist als subtil austarierte Kompositionen dar, die auf ausschnitthafte ebenso wie auf panoramatisch angelegte Annäherungen an verlassene Räume und Orte setzen.

Nicht selten – und das ist immer wieder auch bei Arno Fischer und seinen früheren Schülerinnen und Schülern zu erkennen – spielen kunsthistorische Referenzen eine sehr wesentliche Rolle bei der Motivwahl und ihrer Inszenierung:

Seitlich einfallendes Licht aus offen stehenden Fenstern, strenge Frontalität, aber auch ein zentrales Bildmotiv im Vordergrund einer bewegten diagonalen Raumperspektive – ganz im Sinne eines Repoussoirs in der klassischen Malerei, signalisieren eine große Kenntnis historischer Vorbilder.

Mit solchen stilistischen Mitteln entstehen äußerst suggestive Bildräume, die genau das repräsentieren, was der vor wenigen Tagen verstorbene Philosoph Paul Virilio in seiner 1975 erschienenen „Bunkerarchäologie“ als die grundsätzliche Ambivalenz solcher aufgelassener Militärbauten charakterisierte:

„(Sie)…warnen uns weniger vor dem Gegner aus vergangenen Zeiten als (vielmehr) vor dem Krieg von heute und morgen: vor dem totalen Krieg, dem überall vorhandenen Risiko, der Unmittelbarkeit der Gefahr, der großen Verschmelzung des militärischen und des Zivilen, der Homogenisierung des Konflikts.“

Die Arbeiten von Ingo Kuzia scheinen mir dagegen grundlegend anders angelegt zu sein:

Denn anstelle einer solch klassisch zu nennenden klaren Blickperspektive auf Gebäude, Räume und Zerstörungen im Sinne einer strengen Komposition, konzentriert er sich in zahlreichen seiner Arbeiten vielmehr auf eine äußerst differenzierte Lichtdramaturgie und auf eine Verunklärung der Räume.  Nicht selten basiert diese maßgeblich auf dem Kontrast zwischen hellen und rätselhaft dunklen Bildpartien und schafft so bisweilen dramatische Szenarien, die auch wiederum an die Kunstgeschichte und die Chiaroscuro-Malerei erinnern. Ein Stilmittel, das in der Fotografie bis heute eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.

Auch Ingo Kuzia fotografiert aufgelassene Räume und von der Natur sukzessive zurückeroberte Militärarchitekturen. Auch vor seinen Arbeiten fühlt man sich an die Forschungen von Paul Virilio erinnert und an die Ambivalenz, die Militärbauten wie Bunkern und Kasernen innewohnt: 

"Wenn man die zur Hälfte vergrabene Masse eines Bunkers mit seine verstopften Belüftungsanlagen und dem schmalen Schlitz des Beobachtungspostens betrachtet, dann schaut man in einen Spiegel und gewahrt das Spiegelbild unserer eigenen Todesmacht, unserer eigenen Destruktivität, das Spiegelbild der Kriegsindustrie. Der Bunker ist anwesender und abwesender Mythos zugleich geworden: anwesend als für eine transparente und offene zivile Architektur abstoßendes Objekt, abwesend in dem Maße, in dem sich die Festung von heute woanders befindet, unter unseren Füßen, von nun an unsichtbar."

Es ist also - mit Paul Virilio gesprochen - in den Arbeiten von Ingo Kuzia und Sabine von Breunig weniger ein Akt der romantisierenden Historisierung solcher Szenarien im Sinne des Konstatierens von Vergänglichkeit zu erkennen, sondern vielmehr die Entzeitlichung von Phänomenen im Sinne des permanent anwesenden Mythos.

Die timeline, die Sabine von Breunig und Ingo Kuzia mit ihrer Ausstellung hier im Historischen Keller setzen, spannt also einen historischen Bogen vom 15. Jahrhundert bis in unsere unmittelbare Gegenwart am Beispiel des Militärischen. Sie begreift das Entstehen und Vergehen von Militär und Krieg als einen offenen, nicht abgeschlossenen Prozess.

Ich möchte zum Ende meiner kurzen einleitenden Worte den geschätzten früheren Kollegen Matthias Flügge, Rektor der Hochschule für Bildende Künste in Dresden, zitieren. Er hat aus seiner Perspektive - als in der DDR aufgewachsener Kurator - einen sehr einfühlsamen Text zur Serie „Geisterstadt“ von Sabine von Breunig verfasst, der ebenso für die Arbeiten von Ingo Kuzia gelten kann:

„Gemeinsam gehörten wir (russische Besatzungssoldaten und DDR-Bürger) zur Nachkriegs-generation, die aus gegensätzlichen Perspektiven durch unsere Väter mit den Schrecken des Krieges vertraut gemacht worden waren. Jeder, der diese Bilder heute sieht, wird ganz unterschiedliche Erfahrungen und Erinnerungen in ihnen lesen. So wird die Leere in den Bildern nicht nur zur Metapher der Anwesenheit sondern auch zu einem Sinnbild des Vergessens. Jochen Gerz, der zeitgenössische Künstler, der sich wohl am eindringlichsten mit Fragen des Gedächtnisses und der Erinnerung beschäftigt hat, beschrieb jüngst in einem Interview diese Dualität: „Die Erinnerung ändert sich, hat sich geändert, wird sich ändern, sie ist nicht aus Stein. Oder doch? Wir sagen: Erinnern ist menschlich. Vergessen ist aber ebenso menschlich. (...) Vergessen ist ein unstabiler Zustand von Erinnerung und umgekehrt. (...) Beide, die Erinnerung und das Vergessen, haben ihre eigene Agenda. Man kann an jede Straßenecke schreiben: ‚Nie wieder!’ Doch die Schrift wird dich nicht vor dir selbst retten. Das Mahnmal bist du selbst.“

Ich möchte Sie herzlich zum einem Ausstellungsrundgang mit Prof. Matthias Leupold und den beiden KünstlerInnen am 28.10. um 16.00 Uhr einladen.

Ihnen liebe Frau von Breunig und lieber Herr Kuzia danke ich sehr herzlich für eine sehr beeindruckende Präsentation und wünsche Ihrer Ausstellung viele interessierte Besucherinnen und Besucher.

Herzlichen Dank auch an Gabriele Büchner für die kuratorische Arbeit und Dank an die Kollegen, die heute für Erfrischungen am vermutlich letzten Sommertag des Jahres sorgen.

Ich wünsche Ihnen allen einen anregenden Abend und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.  

Ralf F. Hartmann

Geisterstadt

Sabine von Breunigs Fotografien des Wünsdorfer Militärareals

In seiner „Bunkerarchäologie“ spricht Paul Virilio von dem „zugleich inneren wie äußeren Gefühl von Vernichtung", das die militärischen Anlagen des Westwalls aus dem zweiten Weltkrieg ihm vermittelt haben. Und aus dem Gefühl, das seine Faszination begründete, entwickelte der Philosoph vor 20 Jahren eine ganze Kulturtheorie des modernen Krieges. Am Beispiel der steinernen Relikte in Wünsdorf hat noch niemand etwas Vergleichbares versucht. Anlass gäbe es genug. Nicht weniger als ein ganzes Jahrhundert ist hier zu besichtigen.

Seit die Russen abgezogen sind, verfällt der Militärkomplex. Sabine von Breunig hat ihn in seiner eigenen Systematik und historischen Gewordenheit fotografiert. Es sind vordergründig lapidare Bilder entstanden, die uns durch Räume führen, von deren Existenz die wenigsten wissen. Bilder, die wie ein Schnitt durch die Zeit erscheinen – im Heute, von heute aus. Bilder eines transitorischen Prozesses, die Geschichte nicht zuerst zeigen, sondern ihren Gang visuell erfahrbar machen. Sie zeigen Vergangenes und sind doch reale Gegenwart. Man könnte meinen, sie folgten einem ausschließlich dokumentarischen Interesse. Doch sie sind bei genauem Hinsehen ein eindringlicher Essay über die Erinnerung und über das Vergessen.

Was wir sehen sind Wände und Decken, von denen die Ölfarben herabblättern, Treppenhäuser mit geschwungenen Geländern, Paneele aus widerwärtigen Kunststoffen, ein paar Wandbilder von infantiler Machart, vernagelte Fenster, geöffnete Türen, verfallene Böden, Eisengitter mit merkwürdigen Mustern und immer wieder der Wildwuchs der Natur, der Raum greift in einer Stadt, die verlassen ist und doch voller Phantome zu sein scheint. Vier Regime haben an ihr gebaut. Begonnen unter Kaiser Wilhelm II., genutzt in der Weimarer Republik, exzessiv erweitert von den Nationalsozialisten und schließlich fast 50 Jahre lang Hauptquartier und vorgeschobener Posten der Sowjetarmee im Kalten Krieg. Eine Geisterbahn der deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, von dem man sagt, es sei „das schreckliche“ gewesen. 

Sabine von Breunig hat zwei Jahre lang in Wünsdorf fotografiert - als wollte sie die Wahrheit von William Faulkners Satz unter Beweis stellen: „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“ Seit 1994 sind die Russen weg, sie hinterließen einen vereinsamten steinernen Lenin und die Hinterlassenschaften ihres militärischen Daseins, jene Grusel erzeugende Mischung aus Ärmlichkeit und Großmachtgehabe, wie ästhetischer und materieller Brutalität, die noch immer emotional wie physisch spürbar ist. 

Der zentrale militärische Komplex von Wünsdorf ist heute eine Sperrzone, man braucht eine Genehmigung, um hineinzugelangen und wird begleitet von freundlichen Mitarbeitern eines privaten Wachdienstes, die mit Autos patrouillieren, um Vandalen oder Abenteurer aufzuspüren. Bis vor nicht allzu langer Zeit fanden im Theater der Sowjet-Garnison Veranstaltungen statt. Heute lässt der Bauverfall das nicht mehr zu. Man kann aber nun für ein paar Euro an einer „Fototour“ teilnehmen mit kundiger Begleitung, Grillimbiss und bereitgestellter Nebelmaschine für „professionelle“ Fotos aus der „geheimen Welt“. Zuweilen dient der Ort auch als Filmkulisse und es gibt verschiedene touristische Angebote für Führungen: zaghafte Versuche einer kommerziellen Nutzung.

Denn diese „Zone“ zu betreten, ist nicht wie in Tarkowskis „Stalker“ mit Gefahr für das Leben verbunden, es waren keine Außerirdischen, die sie schufen, und es gibt auch kein Zimmer, in dem man die geheimsten Wünsche erfüllt bekommen soll. Und doch fällt dem Betrachter zuerst Tarkowskis Film von 1979 ein, diese großartige magisch-philosophische Reflexion über Natur und Zivilisation wie über die Verantwortung und das Hoffen. Doch ist das nur die eine Seite, die gleichsam romantische, literarische. Was aber ist in der Zukunft zu tun mit dem Ganzen? Diese Frage stellt sich nicht nur den Denkmalpflegern und den anderen Hütern der „Erinnerungskultur“. Sie interessiert vor allem auch Sozial- und Wirtschaftspolitiker.

Die Brandenburger Landesregierung hat mit gutem Willen und erheblichen Fördermitteln versucht, die weitläufige Kasernenstadt, die den eigentlichen  Sperrbezirk umgibt, zu neuem Leben zu erwecken. Man baute Kasernen zu Wohnungen um, siedelte Ämter an und Antiquariate in der sogenannten „Bücherstadt“. Doch wer will nach Wünsdorf ziehen? Wer fährt mit den unzuverlässigen Regionalzügen dorthin, um nach Büchern zu suchen, wo es in Berlin noble kleine Antiquariate mit ausgesuchten Sortimenten gibt? Vom Internet zu schweigen. Das ganze atmet Hilflosigkeit. Man kann dieses Experiment der Konversion eines ganzen Landstrichs bislang als weitgehend gescheitert ansehen. 

Von Paul Cézanne stammt der berühmte Satz: „Man muss sich beeilen, wenn man etwas sehen will. Alles verschwindet.“ Die Frage ist nur, wie das Verschwinden vor sich geht. Das Gelände ist ausgeschrieben. Die Erwartungen sind die üblichen: Seniorenresidenz, Wellness- oder Konferenzhotel, private internationale Wirtschaftsakademie und was dergleichen beliebte, geschichtsvergessene Umnutzungen ungeliebter Bauten mehr sein mögen. Sollte es so kommen, verschwände die Aura des Ortes unter den Oberflächen der zeitgenössischen Gleichgültigkeit. Die Krise wird es wohl verhindern. Oder soll man alles so lassen, wie es ist? Dem Verfall, der Verrottung anheim geben und in Ruhe zusehen, wie sich die Zeit, die Natur und auch das Vergessen ihr Recht nehmen? Etwas Drittes gibt es nicht. Als Geschichtsdenkmal, das man konservieren könnte, taugt der Ort nicht. Noch hält er Erinnerung wach. Doch in einigen Jahrzehnten wird er überwuchert sein wie die Ruinen von Angkor Vat, als eine Unterabteilung im Museum Europa. Das ist gut vorstellbar im Lauf der Zeit. 

Man meint, diesen Ort wie einen Palimpsest lesen zu können, auf dem sich historische Ebenen überlagern. Die Russen haben die letzte Schicht beschrieben und ein Monument hinterlassen, das nicht nur von den wechselnden Funktionen zwischen Kaiserzeit und Kaltem Krieg spricht, sondern auch von einer unvergleichlichen Verbindung von Architektur-, Sozial-, Kultur- und Militärgeschichte. Kein Ort für heimelige Ruinenromantik. Aber auch keiner, der zur Aufklärung über die modernen Kriege dienen könnte, die längst nicht mehr in Kasernen oder Schießschulen vorbereitet werden. Die Fotografien von Sabine von Breunig haben eine weitergehende Dimension. Was sie im Inneren zeigen, ist die Ratlosigkeit, mit der wir noch immer vor den Trümmern des 20. Jahrhunderts stehen.  Und das nicht nur im materiellen Sinne.

Sabine von Breunig kam nicht unvorbereitet nach Wünsdorf. Seit 2001 arbeitet sie an freien Projekten und hat sich auf eine ganz eigene Art von Architekturfotografie konzentriert. Ihre Serien über den Berliner Palast der Republik vor dem Abbruch oder das Gefängnis der Staatssicherheit in Hohenschönhausen sind nur vordergründig Aufnahmen von Architektur. Vielmehr sind sie Detailstudien über das Phänomen des Genius loci in seiner rhetorischen und metaphorischen Bedeutung, seiner Symbolkraft für soziale und kulturelle Energien und auch seine aus der Antike überlieferte spirituelle Komponente. Der „Geist des Ortes“ – allegorisch wie ästhetisch, ökologisch und auch synästhetisch – , entsteht durch das Tun der Menschen, die ihn geprägt haben. Erst durch deren Abwesenheit kann er wirklich erfahren werden.

Sabine von Breunigs Fotografien sind beredte Zeugnisse dieser Einsicht. Die Fotografin war Meisterschülerin von Arno Fischer, dem großen Menschen-Sucher und Geschichten-Erzähler. Die Hintergründigkeiten der Narrationen über Einsamkeit, die Fischer meisterlich zu enthüllen verstand, verdeckt Sabine von Breunig durch einen Vor-Schein von Sachlichkeit. Arno Fischer, der nach dem Augenschein ganz anders arbeitete, hat das erspürt, als er ihre Bilder erstmals sah. Das Verlassen-Sein war auch eines seiner großen Themen. Sabine von Breunig fotografiert die Leere, als wäre sie gerade erst entstanden. Die Abwesenheit des Lebendigen erscheint in ihren Bildern gleichsam als gesteigerte Anwesenheit.

Wenn sie einen Raum aufnimmt, ist die Perspektive meist kaum merklich aus der zentralen Achse gerückt, die Kamera steht so, dass man eine Bühne zu sehen meint, festgehalten mit den klassischen Mitteln der Architekturfotografie, aber etwas „stimmt“ nicht, eine leise Verschiebung – und der Ort scheint auf vertrackte Weise neben sich zu stehen. Und dann fällt das Licht ein und moduliert die Räume, als wäre es künstlich arrangiert. Man sieht jedem einzelnen Bild an, mit welcher fast schon liebevollen Sorgfalt es bedacht und komponiert ist: der leere Raum erscheint als Gegenstand von individuellen Porträts. Nichts ist daran digital manipuliert, den Versuchungen der Dramatisierung erliegt die Fotografin nicht. Sie vertraut voll und ganz auf die Magie des Fotografischen, die es seit deren Anfängen gibt. „Eine der dauerhaften Errungenschaften der Fotografie war denn auch ihre Strategie, lebendige Wesen in leblose Dinge zu verwandeln und leblose Dinge in lebendige Wesen“, hat Susan Sonntag beobachtet. 

Dabei verbirgt die Fotografin ihre Faszination vor den Motiven überhaupt nicht. Sie hat sich in der Arbeit gleichsam auch in eine emotionale Beziehung zu ihnen begeben. Im Westen des Landes aufgewachsen, kannte sie die Parallelwelt, die die Sowjetarmee sich errichtet hatte, nur vom Hörensagen. Doch auch wir im Osten, die wir die Sperrzonen ebenso gewohnt waren wie die grünen Flecken auf den Landkarten, die dort, wo die Russen waren, keine Strassen oder Orte verzeichneten, übten uns in Ignoranz. Die Flecken waren ja grün und nicht weiß. Und wir haben nie mit Sowjetsoldaten beim Bäcker in der Schlange gestanden oder ihnen in der U-Bahn gegenübergesessen. Zwei oder drei Pflichtbesuche von handverlesenen Soldaten in der Oberschule, das war alles. Sie sprachen nicht viel, wir auch nicht. Und sie waren kaum älter. Verhuschte, eingeschüchterte Jungen, die uns leid taten. Vielleicht entstand daraus eine melancholische Empathie. Sie waren die Sieger, aber sie hatten nichts davon, da waren kein Triumph und keine Angst; ich erinnere mich an eine Atmosphäre gemeinsamer Trauer. Gemeinsam gehörten wir zur Nachkriegsgeneration, die aus gegensätzlichen Perspektiven durch unsere Väter mit den Schrecken des Krieges vertraut gemacht worden waren. Jeder, der diese Bilder heute sieht, wird ganz unterschiedliche Erfahrungen und Erinnerungen in ihnen lesen. So wird die Leere in den Bildern nicht nur zur Metapher der Anwesenheit sondern auch zu einem Sinnbild des Vergessens. Jochen Gerz, der zeitgenössische Künstler, der sich wohl am eindringlichsten mit Fragen des Gedächtnisses und der Erinnerung beschäftigt hat, beschrieb jüngst in einem Interview diese Dualität: „Die Erinnerung ändert sich, hat sich geändert, wird sich ändern, sie ist nicht aus Stein. Oder doch? Wir sagen: Erinnern ist menschlich. Vergessen ist aber ebenso menschlich. (...) Vergessen ist ein unstabiler Zustand von Erinnerung und umgekehrt. (...) Beide, die Erinnerung und das Vergessen, haben ihre eigene Agenda. Man kann an jede Straßenecke schreiben: ‚Nie wieder!’ Doch die Schrift wird dich nicht vor dir selbst retten. Das Mahnmal bist du selbst.“

Auch die Bilder retten uns nicht vor uns selbst. Aber sie können helfen, uns unserer selbst bewusster zu werden.

Fotografie schafft Distanz, sie hält etwas fest, das unwiederbringlich ist und sich zugleich unaufhaltsam von uns entfernt.

Matthias Flügge, August 2012