Zwischen Traum und Wirklichkeit
Jugendhochschule Wilhelm Pieck am Bogensee
1946 - 1990
Sabine von Breunig
Am Bogensee nahe Wandlitz nördlich von Berlin richtete die DDR für ihre Jugendorganisation ‚Freie Deutsche Jugend‘ (FDJ) eine Hochschule für den Funktionärsnachwuchs ein; sie wurde zum DDR-Vorzeigeprojekt.
Gegründet wurde die FDJ Anfang 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone als antifaschistische Jugendorganisation. Kurz darauf eröffnete am Bogensee nördlich von Berlin eine ‚Zentralschule‘. Sie war in der ehemaligen Villa des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels untergebracht, einem komfortablen Landsitz mit 30 Zimmern auf einem 1.600 qm großem Grundstück mit repräsentativem Empfangssaal, Kinosaal, Gästehaus und eigenem Wasserwerk. Die rückwärtigen, haushohen Fenster sollen noch heute auf Knopfdruck in den Boden zu versenken sein. Hier arbeitete Goebbels an seiner berühmt-berüchtigte Rede zum ‚totalen Krieg‘.
Die Zentralschule nahm am 22. Mai 1946 den Unterricht auf. Zu den ersten Dozenten gehörte Wolfgang Leonhard. ****
Zunächst kamen die Lehrgangsteilnehmer aus ganz Deutschland. Mit der Zuspitzung des Ost-West-Konflikts schärfte die Hochschule ihr Profil und avancierte zur Kaderschmiede für den Funktionärsnachwuchs der DDR. Es ging gezielt um die Ausbildung junger Sozialisten und die Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik. Auf dem Lehrplan standen nun die Grundlagen des Marxismus-Leninismus.
1950 erschien Wilhelm Pieck der Präsident der DDR persönlich um die Umbenennung der Schule vorzunehmen. Sie hieß fortan Jugendhochschule Wilhelm Pieck, Zentralschule der Freien Deutschen Jugend.
In den 50er Jahren entstand neben Goebbels ‚Waldhaus‘ auf einem 17 Hektar großen Gelände ein weitläufiger Gebäudekomplex mit Unterrichts-, Gemeinschafts- und Wohngebäuden im Stil des Sozialistischen Klassizismus nach Plänen des berühmten DDR-Architekten Hermann Henselmann, der auch die ehemalige Stalinallee später Karl-Marx-Alle erbaut hatte.
1990, nach dem Untergang der DDR, wickelte die Treuhandanstalt die FDJ-Jugendhochschule ab, einzelne Gebäude wurden vorübergehend als Ausbildungsstätte und Hotel genutzt. Seit mehr als 20 Jahren stehen die denkmalgeschützten Häuser leer. Die markanten Erinnerungsorte repräsentieren die Zeit vor und nach 1945, sie sind dem Verfall preisgegeben. Das rund 170.000 m² große Areal im Besitz des Landes Berlin liegt im Dornröschenschlaf zwischen drohendem Abriss und Umnutzung, die offensichtlich nicht gelingt.
Eine Zeitzeugin: Gisela Koenig öffnet ihr Fotoalbum und erinnert sich
Sabine von Breunig im Gespräch mit Gisela Koenig
„Ich war nach meiner Ausbildung als Kindergärtnerin hauptamtlich in der FDJ tätig, als Sekretär in der Kindergärtnerinnen Fachschule und später in höheren Funktionen in der Kreisleitung der FDJ in Luckenwalde. Es war auch die Kreisleitung Luckenwalde, die mich zu einem Lehrgang an die Jugendhochschule delegierte.“
Als Gisela Koenig 1957 an den Bogensee kam, stand der Gebäudekomplex von Hermann Henselmann schon. In der Goebbels-Villa war ein Kiosk für den täglichen Bedarf untergebracht. Sie meint sich auch daran zu erinnern, dass es dort eine Arztpraxis gab.
Die Auswahl für die Lehrgangsteilnehmer fiel auf ‚gestandene Leute‘ mit Erfahrung, die sich bereits bewährt hatten. Nach 1958 kamen dann auch viele ausländische Studenten an den Bogensee, aus Vietnam, afrikanischen Ländern, aus Südamerika - aus allen Ländern mit denen die DDR Kontakte pflegte. Es gab auch, was viele heute nicht mehr wissen, Teilnehmer aus der BRD.
Die Lehrgänge wurden zur Aus- und Weiterbildung genutzt und sollte die Teilnehmer politisch auf ihre Leitungsfunktionen vorbereiten. Auf dem Lehrplan standen dialektischer und historischer Materialismus*, deutsche Geschichte, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Geschichte der KPDSU, politische Ökonomie des Kapitalismus, Ökonomie des Sozialismus, Verbandaufbau/Organisation der FDJ von der Gruppe bis zum Zentralrat, Deutsch und Sport. Organisiert waren die Lehrgänge in universitären
Strukturen mit Vorlesungen/Lektionen und Seminaren. Es gab eine umfangreiche Bibliothek mit mehreren Tausend Bänden, in der die Studenten vertiefen konnten, was sie in den Vorlesungen gehört hatten. Hier konnten sie sich auch vorbreiten, wenn es darum ging eigene Vorträge zu erarbeiten. Der Unterricht wurde hauptsächlich von gut ausgebildeten Pateileuten übernommen. Für Gisela Koenig waren alle nicht nur inhaltlich, sondern auch pädagogisch befähigt und sehr daran interessiert, ein gutes Verhältnis zu den Studenten zu haben. *
Der Enthusiasmus mit dem Gisela Koenig in die Jugendhochschule kam ist auch heute noch spürbar: ‚Mit Beginn des Lehrgangs zogen wir in eines der Wohnhäuser ein, und hatten dort schöne Zimmer zu dritt oder zu viert. Die Atmosphäre war entspannt. Die Lehrveranstaltungen begannen vormittags mit Vorlesungen und Seminaren. Mittags versammelten sich die Studenten in der großen Kantine, nachmittags ging es mit den Lehrveranstaltungen weiter. Abends gab Kinovorstellungen, es wurde gesungen und getanzt. Ich war in der Volkstanzgruppe, es gab richtig schöne Freizeitbeschäftigungen‘. Manchmal waren die Abende auch frei undunverplant. Da konnte sich die Studierenden auf die Galerie im Kultursaal setzen Kaffee oder auch Bier trinken und sich unterhalten. Es war‘ wie Gisela Koenig sich erinnert ‚zwanglos in einer freundschaftlichen Atmosphäre‘. Es gab insgesamt viel Geselligkeit und gemeinsame Unternehmungen, z.B. fuhr der gesamt Lehrgang am 1. Mai dem Tag der Arbeit oder auch 7. Oktober dem Nationalfeiertag der DDR zu den Demonstrationen nach Berlin. ‚Wir machten auch Ausflüge in die Pionier-Republik Wilhelm Pieck am Werbelinsee** 50 Kilometer von Berlin entfernt‘. Zum Rahmenprogramm der Jugendhochschule gehörte auch die Teilnahme an GST ***Lehrgängen, die eine vormilitärische Ausbildung organisierte.
„Es war eine Zeit voller Hoffnung“
‚Ich war Oktober 1956 -Dezember 1957 in der Jungendhochschule am Bogensee. Ich habe das Grauen des Krieges ja noch als Kind erlebt. Wir waren voller Hoffnung, dass wir eine friedvolle Zukunft aufbauen würden. Wir waren ehrlich begeistert und hofften, dass das Elend das der Faschismus gebracht hatte vorüber war. Für mich war es eine schöne freie Zeit. Es war uns klar, dass wir uns nur mühevoll und mit Einschränkungen ein neues Leben aufbauen konnten. Unser Ideal war der Sozialismus für eine bessere Gesellschaft, ein besseres Leben ohne Ausbeutung, ohne Kriegsangst – Wohlbefinden für alle‘.
Auf die Frage ob das nur das Ideal derjenigen war, die ohnehin schon begeistert waren sagt Gisela Koenig: ‚Ich glaube, dass die Masse der Menschen damals voller Hoffnung war. Es gab natürlich auch diejenigen, die erkannt haben, dass nicht alles auf den richtigen Gleisen lief aber das war eine Minderheit. Man hat sich schon gewundert, dass Kritiker so streng bestraft wurden. Damals haben wir noch gedacht, dass das gerecht sei, weil die Kritik in einem falschen Denken begründet war. Es wurden ja auch vor allem Fehler in der ökonomischen Ausrichtung kritisiert. Das System wurde mehrheitlich nicht in Frage gestellt‘.
Viele Kontakte aus der Zeit sind ein Leben lang erhalten geblieben. Für Gisela Koenig war es keine repressive Zeit, es sei mit Freude gelernt worden und es gab ein tiefverwurzeltes Gemeinschaftsgefühl. Es gab lange Zeit Treffen mit den ehemaligen Studenten. Für Koenig war es eine Zeit des Aufbruchs, eine Zeit die sie nicht missen möchte‘. Mit Indoktrination habe das nichts zu tun gehabt. ‚Wir haben mit Freude und Engagement daran gearbeitet, das Land aufzubauen. Das sprang auch von den Lehrkräften, die begeistert und interessiert waren, auf uns über. Wir waren davon überzeugt, dass die Volksmassen es schaffen werden, die Ausbeutung abzuschaffen und eine gerechte Gesellschaft aufzubauen.‘
Es heißt immer, dass der Nationalsozialismus in der DDR nicht aufgearbeitet wurde, dem widerspricht Koenig energisch: ‚Natürlich wurde der Nationalismus in der DDR aufgearbeitet. Wir haben viel über die Verbrechen der Faschisten gesprochen. Die Pionierleiter machten den Schülern plausibel, was der Faschismus angerichtet hat. Auch die Lehrer wurden angehalten den Schülern die Verbrecher des Nationalsozialismus zu vermitteln.
Gisela Koenig war schon vor dem Besuch der Jugendhochschule davon überzeugt, dass die Erziehung der Kinder eine große Rolle für die Entwicklung einer neuen, gerechten Gesellschaft spielt. Ihr Traum war: ‚Wenn mehrere Generationen in der sozialistischen Republik erzogen werden, hätten wir vielleicht die Möglichkeit gehabt den Sozialismus zu vollenden. Solche Vorstellungen hatte ich damals. Das ist leider nicht eingetroffen. Der Kapitalismus ist jetzt dominant in unserem Leben‘. Auf die Anmerkung, dass der DDR- Sozialismus ja keine Stabilität gebracht habe, sagt Gisela Koenig. ‚Ne, eben nicht.‘ aus ihren Worten spricht die Enttäuschung.
Glossar
*Das Niveau der Lehrgänge war anspruchsvoll es ging darum, die sozialistische Politik philosophisch zu begründen. Der wissenschaftliche Sozialismus steht auf drei Säulen dem dialektischen und dem historischen Materialismus und der marxistischen Ökonomie. Der dialektische Materialismus wurde von Karl Marx und Friedrich Engels in der gemeinsamen Schrift ‚Die deutsche Ideologie‘ 1845 begründet und später in zahlreichen Schriften verteidigt und weiterentwickelt. Der Hauptgedanke des dialektischen Materialismus ist, dass die Einheit der Welt in der Materie, die ewig und unendlich ist, begründet ist. Damit wurde es möglich, die Unterschiede von Sein und Bewusstsein, von belebten und unbelebten Dingen anzuerkennen und trotzdem an einem gemeinsamen Ursprung der Materie festzuhalten. Marxistische Philosophie wurde in den sozialistischen Ländern an Lehrstühlen gelehrt, die dem dialektischen und dem historischen Materialismus gewidmet waren. Wobei sich der historische Materialismus auf die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Gesellschaft und ihrer Entwicklung konzentrierte. Während der dialektische Materialismus einen Beitrag zur Erklärung der Entwicklungsgesetzmäßigkeiten in Natur, Gesellschaft und Denken zu leisten.
** Anfang der 1950er Jahre entstand Werbelinsee eine Republik in der Republik die ein sozialistisches Kinderparadies für die Kleinsten war. Vor allem in den frühen Jahren diente das Lager der Unterbringung von Kriegswaisen später wurden dann ausgewählte Schüler hierher delegiert. Es gab neben Aktionen in den Gruppen auch Schulunterricht. Das Themenspektrum reichte von: Wie macht man Gruppennachmittage, wie organisiert man den Freundschaftsrat. Im Sommer 1969 fand das erste ‚Internationale Sommerlager‘ mit Kindern aus 31 Ländern statt. Das Sommerlager 1989 mit Kindern aus 50 Ländern war der letzte große Höhepunkt der Pionierrepublik.
Die FDJ war Teil des sozialistisch ausgerichteten Weltbundes der Demokratischen Jugend WBDJ, dem mehr als 150 Mitgliedsorganisationen aus 109 Ländern angehörten, die 30 Millionen Jugendliche vertraten. Der WBDJ war der Hauptträger der in unregelmäßigen Abständen seit 1947 stattfindenden Weltfestspiele der Jugend und Studenten." -
***Die GTS "Gesellschaft für Sport und Technik" war am 7. August 1952 gegründet worden, zunächst mit dem Ziel DDR-Jugendlichen technische Fertigkeiten zu vermitteln. Doch schon bald verschob sich der Fokus. Am 14. September 1968 wurde die "vormilitärische Ausbildung" offiziell eingeführt. Die GST wurde zu einer "sozialistischen Wehrorganisation", deren Aufgabe es war künftige Soldaten heranzubilden. Wenn in den Schulen der DDR für den Beitritt zur "Gesellschaft für Sport und Technik" (GST) geworben wurde, dann war es nur selbstverständlich, dass das Militärische romantisiert und überdies an die Pflicht eines jeden Bürgers erinnert wurde, das sozialistische Vaterland im Falle eines Falles auch "mit der Waffe in der Hand" zu verteidigen. Es war keine Frage, dass mit dieser Ausbildung nicht früh genug begonnen werden könne.
**** Wolfgang Leonhard schrieb 1955 in der Bundesrepublik das berühmte Buch ‚Die Revolution entlässt ihre Kinder‘, in dem er seinen politischen Weg von Moskau im Jahre 1935 bis zu seiner Flucht aus der Sowjetischen Besatzungszone 1949 beschreibt.
Quellen: Deutschland Funk Otto Langels 22.05.2021
Mitteldeutsche Zeitung 5.Oktober 2016
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