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Dr. Matthias Harder, Kunsthistoriker - Vernissage DNA of HISTORY

Hier gibt es keine Patienten mehr 

Am Anfang des neuen Fotoprojekts von Sabine von Breunig steht eine geöffnete Tür; Sie gibt den Blick frei auf einen großen, leeren Raum, einen der früheren Festsäle, in den uns die Fotografin anschließend hineinführt. Putz bröckelt hier an manchen Stellen von der Wand, eine Heizkörperverkleidung ist aus der Verankerung gerutscht, nur die altmodischen Wandlampen zwischen den Fenstern verweisen auf die frühere repräsentative Funktion des Raumes. Etwas später begegnen uns auf dem virtuellen Rundgang durch die ehemalige städtische Irrenanstalt, die jetzt zum Ludwig-Hoffmann-Quartier umgebaut wird, benannt nach dem früheren Architekten des riesigen Krankenhauskomplexes in Berlin-Buch, Durchblicke und Durchreichen.

Diese hatte die Fotografin bereits in ihrem Projekt „Final Walk“ in der Berliner Clayallee immer wieder thematisiert. Eine Durchreiche ist mehr als eine schlichte Wandöffnung, es ist die Durchdringung und Verbindung zweier Räume. Das Verbindende und das Trennende, das Früher und das Heute halten sich im jeweiligen Bild als antagonistische Prinzipien die Waage. Das ehemalige Hauptquartier der amerikanischen Truppen in Berlin-Dahlem, das von 1949 bis zum Abzug der dort stationierten Soldaten 1994 entsprechend genutzt wurde, ist einige Jahre später ebenfalls als lohnenswertes Investitionsobjekt entdeckt und in Wohneigentum umgewandelt worden. Dort war das eigentliche Bildmotiv für Sabine von Breunig eher die Leere im Raum, der häufig zu einer Art Bühne wird, sowie die verblassende Schönheit der wenigen übriggebliebenen Dinge und Materialoberflächen.

In Berlin-Buch führt uns die Fotografin auch in die Sanitärbereiche des Hospitals, wo wir unter anderem in einen großen leeren Indoor-Swimmingpool schauen, in gekachelte Badezimmer und Gemeinschaftsduschen. Vieles ist hier bereits demontiert, Handwaschbecken teilweise demoliert. Es gibt blaue und rosa Wandfliesen, und über diesen Farbcode sind seinerzeit möglicherweise die Bereiche für die weiblichen oder männlichen Patienten visuell unterschieden worden. Immer wieder verlängert Sabine von Breunig unseren Blick, indem sie lange Flure zeigt; auch sie sind verwaist, von ihnen gehen Räume ab, teilweise Behandlungszimmer, teilweise klaustrophobisch kleine Wohnzellen. Es ist wieder eine intensive und systematische Spurensuche. Die Fotografie selbst wird zum stummen Zeugen einer Vergangenheit, sie dient einer zumindest visuellen Bewahrung des Vergehenden.

Szenenwechsel: In einer zweiten Serie besuchen wir mit Sabine von Breunig das Haus 134 des Ludwig-Hoffmann-Quartiers, das ehemalige, 1956 vom Architekten Franz Ehrlich errichtete Institut für Pathologie. Die noch vorhandene Innenausstattung und die Lokalfarbigkeit sind natürlich völlig anders als in den Bauten Hoffmanns von der Jahrhundertwende. Die Fußböden sind, dem damaligen Zeitgeschmack entsprechend und wie auch in West-Berlin üblich, aus groben Bruchsteinen zusammengefügt, die Treppengeländer aus einfach gebogenen und geweißten Stahlbändern, die Wandverkleidungen häufig großflächig aus Holz. Hier ist über die Jahrzehnte bis heute mehr erhalten geblieben, doch auch in diesen Bildern können wir die bevorstehende Transformation ablesen, wenngleich etwas subtiler: Die Heizkörper sind bereist abmontiert, das Gebäude ist insofern unbeheizt und seiner früheren Funktion ebenso beraubt. Auch die Bilder dokumentieren eine Umnutzung, und dieser Begriff ist ja zu einem architektonischen und urbanen Schlagwort im Berlin des frühen 21. Jahrhunderts geworden.

Allein mit Blick auf die Interieurs wissen wir häufig nicht, an welchem Ort, in welchem Gebäude und in welchem Stockwerk wir uns überhaupt befinden. Manche Räume wirken etwas hermetisch, etwa wenn uns die Fotografin keinen Blick aus einem Fenster gestattet. In einer querformatigen Aufnahme, es könnte ein Kellerraum sein, blicken wir beispielsweise auf verschmutzte quadratische Wandplatten, möglicherweise aus Metall, während eine geschlossene Metalltür ohne Griff eine formal prägnante Vertikale bildet und rechts parallel zu dieser Tür ein Fallrohr steht, das uns stutzen lässt. Es war vermutlich einmal weiß angestrichen, ist nun ebenfalls verschmutzt, verrostet und führt in abenteuerlicher Krümmung in die Tiefe. Es ist, als würde es die Last des darüber liegenden Hauses verbogen haben und es gleich zum Bersten bringen. In fast jedem Bild von Sabine von Breunig findet sich ein solches punctum, wie Roland Barthes 1980 in seinem Buch „Die helle Kammer“ ein eigentlich marginales Bilddetail nannte, das uns jedoch sonderbar zu berühren scheint. In anderen ihrer Aufnahmen ist es eine geöffnete Schublade, ein an die Wand gehefteter unleserlicher Zettel, eine farbige Lichtspiegelung auf einer Glasvitrine oder ein nur ganz wenig zurückgezogener Vorhang. Sabine von Breunig vermag es, in den Aufnahmen eine große Prise Rätselhaftigkeit zu bewahren oder ihnen erst zu verleihen.

In wieder anderen Gebäuden des großen und weitläufigen Areals in Buch, beispielsweise im Waldhaus, in der damals so genannten „Heimstätte für männliche Brustkranke, 1903 von Hoffmann gebaut, begegnet uns der Verfall, den die jahrzehntelange Nichtnutzung mit sich brachte, umso augenfälliger. Die kathedralenartige Eingangssituation mit den Arkadenbögen und den hohen Decken mutet zunächst hochherrschaftlich an, doch gleich dahinter in den Fluren stehen die Fenster offen, die Scheiben sind teilweise heraus- und der Wandputz ist großflächig heruntergefallen. Etwas weiter begegnen uns großformatige Graffitis auf Innenwänden. Trotz der geradezu ruinösen baulichen Situation ahnen wir, dass das Gebäude mit entsprechendem Renovierungsaufwand in eine Wohnsituation überführt werden kann, die viele Menschen heute so schätzen. Wenn ein solches Haus schließlich in neuer Form fertiggestellt ist, interessiert es Sabine von Breunig nicht mehr als Motiv. Dann sind es andere Fotografen, die es für die Hochglanzbroschüren der Investoren und Immobilienmakler ablichten. Von Breunig arbeitet eher wie eine Historikerin oder Stadtarchäologin mit der Kamera; sie dokumentiert in einem kleinen Zeitfenster einen Zwischenzustand, ganz nach dem vorangestellten Motto: „Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet ...“ Es war Paul Cézanne, der dies mit Blick auf eine sich radikal verändernde Landschaft in einem Brief Ende der 1880er Jahre formulierte. Vielleicht schwang auch die Trauer über das unvermeidliche Ende der Romantik mit oder eine Klage über die frühen Folgen der industriellen Revolution. Die Moderne ersetzt stets das Frühere, Aus-der-Zeit-Gefallene. Von Breunigs Bildserie ist ebenfalls das Symptom eines Wandels, möglicherweise einer pragmatischen Transformation.

Was sie in ihrem Werk umtreibt, ist genau dieser Moment des Umbruchs, aufgespürt an einem historischen Ort, den sie zum Bild werden lässt, zu einer visuellen Erzählung – auch wenn dies hier ziemlich spät geschieht. Denn die Wiedervereinigung und die daraus resultierenden Umbrüche liegen schon Jahrzehnte zurück. Doch in diesem Fall, im Rahmen der Umwidmung einer historisch bedeutenden Krankenhausanlage, seit 1977 unter Ensembleschutz und mit preußischer und Stasi-Vergangenheit, brauchten auswärtige Investoren halt noch eine Weile, um entsprechend aktiv zu werden. Erst seit 2012, inmitten der Transformation, machte es für Sabine von Breunig Sinn, dort ihre Kameras aufzustellen und eine neue Werkgruppe zu beginnen.

In den 1970er Jahren wurde in Buch noch etwas ergänzt: zwei sehr gut ausgestattete Spezialkliniken, für den Ministerrat und die Staatssicherheit. Die Gebäude liegen etwas abseits in einem Waldgebiet, drinnen herrschte der bestmögliche sanitäre, hygienische, technische und fachmedizinische Standard, was man von den anderen Kliniken für die normalen Bürger der DDR drumherum nicht behaupten konnte. Erst nach der Wiedervereinigung waren jene Spezialkliniken für Kassenpatienten zugänglich. Und so finden sich selbstverständlich auch dokumentierende Bilder der früheren Ungleichverteilung in der neuen systematischen Werkgruppe von Breunigs. Ihr dokumentarischer Ansatz verwandelt die inzwischen verwaisten, ihrer eigentlichen Funktion beraubten Räume schließlich in ein künstlerisches Konzept von Werden und Vergehen; die inhaltliche Brisanz des einzelnen Bildes erschließt sich erst langsam, dann aber umso wirkungsmächtiger.

Als ehemalige Meisterschülerin des legendären Arno Fischer hat Sabine von Breunig einen intensiven Blick auf die Umwelt vermittelt bekommen, den sie für sich immer weiter entwickelt hat. Sie denkt und erzählt in Bildsequenzen. Sie dringt ein in eine historische Intimität und bringt mit ihren Bildern einen Zustand des Nicht-Mehr und des Noch-Nicht ans Licht. Nichts im Raum ist arrangiert, alles so fotografiert wie vorgefunden. Die einzige Inszenierungsidee ist die bewusste Wahl des Blickwinkels respektive Bildausschnitts. Die von ihr ausgewählten Orte im ehemaligen Klinikum sind real, und auch ihre Fotografie trägt noch das traditionelle Realitätsversprechen in sich. Von Breunigs Aufnahmen werden im besten Fall einer Rezeption schließlich zu fantasievollen Gedankenräumen – in unseren Köpfen. Denn auf den atmosphärischen und zugleich präzisen Raumbildern ist mehr als das, was wir darauf sehen. Etwas Metaphysisches ist spürbar, vielleicht eine Ahnung vom ehemaligen Leben und Sterben an diesem Ort, als die Gebäude noch Krankenhäuser waren. Unabhängig von einer solchen bewussten oder unbewussten Kontextualisierung, aus den Räumen scheint sich zwar das Leben zurückgezogen zu haben, doch die Spuren der Menschen bleiben allgegenwärtig. Gleichzeitig ist die Leere im nackten Raum doch immer auch Volumen, und sei es ein immaterielles Volumen, bestehend bloß aus Licht und Luft. Die Fotografin zwingt uns auch in dieser Werkgruppe zum genauen Hinsehen und Erspüren, und das macht Sabine von Breunig sehr subtil und überzeugend. Ihre Bilder halten Zustände des Architektonischen und Sozialen fest. Der Verfall der Räume und die Umnutzung jener Architektur schildert, ja versinnbildlicht den Verlauf der Geschichte, in der wir mittendrin stecken.

 

Matthias Harder